Aus Edmonton hatte ich mich ja in die Prärie verabschiedet. Aber wann ist man in der Prärie? So, wie man sich die Prärie aus dem Edelwestern vorstellt, habe ich sie jedenfalls nicht gesehen, was ja auch ganz gut ist, denn in diesen Filmen gibt es nie brauchbare Straßen und auf die lege ich einen gewissen Wert, denn sonst wird’s sehr mühsam.
Jedenfalls ändert sich die Landschaft nach Edmonton noch nicht so schlagartig, dass man sofort einen Unterschied wahrnimmt. Es bleibt erst einmal bei Wäldern, die immer wieder durch diese riesigen Äcker oder Viehweiden unterbrochen werden. Aber dann kommt es doch mit einem Mal knüppeldick. Dicke Gewitterwolken ziehen sich zusammen. Zuerst habe ich noch die Hoffnung, dass alles an mir vorbeizieht, aber dann bin ich plötzlich mittendrin. Solche extremen Gewitter hatte ich auch schon auf meiner Reise im mittleren Westen der USA erlebt und weiß, dass das kein Spaß ist. Und mitten im Gewitterschauer höre ich eine Stimme aus meiner Lenkertasche. Erst glaube ich noch, irgendwie eine Taste aktiviert zu haben, mit der mir das Gerät jetzt seine Dienste anbieten will – falsch! Eine Tornadowarnung auf alle Geräte in der betroffenen Region! Der Hinweis, sich Schutz zu suchen ist für einen Fahrradfahrer in dieser Gegend bestenfalls gut gemeint… Mit einem komischen Gefühl fahre ich weiter und sehe erleichtert das Unwetter abziehen. Ich bewege mich auf den Landstrich Kanadas mit den meisten Tornados zu – die Prärie eben.
Je weiter ich mich von Edmonton entferne, desto gleichförmiger wird die Landschaft und die bisher schon langen Geraden sind scheinbar noch einmal länger geworden. Oft sieht die Straße am Horizont hinter einem Hügel verschwinden – und dann geht es genauso weiter. Da ist es keine Verzweiflung aber doch das Verlangen nach ein bisschen Abwechslung, dass ich den großen Hinweisschildern nach Rowley („Visit Rowleywood“ steht direkt am Abzweiger) nachgebe und die fünf Kilometer Schotterpiste in den kleinen Ort fahre. Viele Leben gibt es im dem Dorf nicht mehr und es sieht tatsächlich aus wie ein Freilichtmuseum oder eine Filmkulisse – allerdings sehen viele der ganz kleinen, weit abgelegenen Ortschaften hier in der Provinz ganz ähnlich aus. Gerade so, als wäre die Zeit hier stehen geblieben, und es müssen nur noch die letzten Hartnäckigen gehen, damit man hier das Licht endgültig aus machen kann.
Ganz anders sieht es da schon ein kleines Stück weiter in Drumheller aus. Mitten in den kanadischen Badlands und damit in einer der ergiebigsten Fundstellen von Dinosaurierfossilien gelegen. Und dieses Thema wird touristisch ausgeschlachtet. Ich bin ja auch deswegen hier. Das merkt man als erstes daran, dass die Preise auf den Campingplätzen gleich doppelt so hoch sind wie sonst, die Gegenleistung aber eher mittelmäßig. Und man merkt es daran, dass hier alles Dinosaurier ist. Angefangen mit dem angeblich größten T-Rex an der Touristeninformation – für fünf Dollar kann man ihn besteigen und einen Blick aus seinem Maul werfen (natürlich war ich auch oben), bis hin zu einem Wettbewerb, der hier einmal stattgefunden haben muss, wer den hässlichsten Dinosaurier gestaltet. Mit der Zusage, dass sie alle im Ort ausgestellt werden.
Zwei Nächte will ich hier bleiben und habe damit einen Tag zur Verfügung, die wichtigsten Sehenswürdigkeiten zu erkunden. Ganz oben stehen natürlich das Royal Tyrrell Museum und der Hoodoo-Trail. Beide liegen außerhalb von Drumheller in entgegengesetzten Richtungen. Meine Tagesplanung mache ich von der Wettervorhersage abhängig. Morgens Sonnenschein – also erstmal zu den Hoodoos, mittags und nachmittags Gewitter – also ins Museum. 16 Kilometer gegen strammen Wind zum Hoodoo-Trail. Um 09.00 Uhr bin ich als erster dort und kann mich in Ruhe umsehen. Abends wäre das Licht wahrscheinlich schöner, aber insgesamt hatte ich aufgrund von Fotos, die ich gesehen hatte, und des Werberummels um dieses Gebiet, mehr erwartet.
Nicht wirklich enttäuscht aber auch nicht hellauf begeistert trete ich den Weg Richtung Museum an. Der Wetterbericht ist mal wieder falsch, es bleibt sonnig und windig. Das Tyrrell Museum übertrifft dann allerdings meine Erwartungen weit. Die Masse der gezeigten Objekte, die überwiegend aus der Region stammen, die Qualität und auch die Art der Präsentation sind schon überwältigend. Besonders beeindruckt mich die Halle mit Fundstücken, die Menschen bei ihrer ganz normalen Arbeit zutage gefördert haben: im Bergbau, im Straßenbau, bei der Ölförderung, in der Landwirtschaft – teilweise einzigartige, tonnenschwere Fossilien, die mit schwerstem Gerät freigelegt wurden und Menschen mehr oder weniger zufällig erkannt haben, um welche Schätze es sich handelt. Wie immer in solchen Museen ist die Fülle der Informationen nicht zu verarbeiten, zumal wenn man mit rudimentären Vorkenntnissen herkommt. Deswegen mache ich hier dasselbe, was ich im Museum gemacht habe, nämlich die Bilder wirken lassen:
Ein paar Stunden Museum, ein kleiner Imbiss zur Stärkung und das Wetter ist immer noch gut. Deswegen entschließe ich mich, die Runde um den Canyon des Red Deer River zu fahren mit dem nördlichen und dem südlichen Dinosaurier-Trail. Um es vorwegzunehmen: Es gibt dort keine Dinosaurier. Allerdings Geier, Schlangen und vor allem Gophers. Diese Bezeichnung für die Erdhörnchen habe ich auch erst dort von einem Einheimischen gelernt. Mein erstes Ziel auf der Runde ist ein Aussichtspunkt auf den Horse Thief Canyon. Dort wimmelt es allerdings von diesen kleinen Nagern und anders als sonst, zeigen sie hier keine Scheu vor Menschen. Sie fressen Kindern aus der Hand und mir kriechen sie so dicht auf die Pelle bzw. vor die Kamera, dass sie teilweise zu dran sind, um noch zu fokussieren. Diese Gelegenheit kann ich mir einfach nicht entgehen lassen und so wird der Canyon zum Beiwerk. Von meinem Gesprächspartner, der mit auch den nick name der Tiere gesagt hatte, erfahre ich allerdings auch, dass sie wohl ungefähr so beliebt sind, wie Maulwürfe auf einem Golfplatz. Mir egal – sie sind einfach niedlich.
Und jetzt will das Wetter wohl doch noch die Vorhersage bestätigen und in meine Fahrtrichtung ziehen dunkle Gewitterwolken auf. Da ich ohnehin keine Dinosaurier mehr zu erwarten habe, entschließe ich mich zu Umkehr und nach einem perfekten Tag komme ich ohne Gewitter wieder bei meinem Zelt an.
Der nächste Tag beginnt so, wie Tage auf einer Radreise nicht beginnen sollten. Kaum habe ich Drumheller verlassen, schwächelt mal wieder mein Hinterreifen und während ich mich mit der Reparatur beschäftige, zieht eine organisierte Gruppe Radfahrer an mir vorbei, die ohne Gepäck von Küste zu Küste fährt. Mit frischen Druck auf dem Reifen rolle ich aus dem Tal und bin nun endgültig in der Prärie angekommen. Erst sind es noch die Badlands von Alberta, später geht es dann nahtlos in die unendlichen Weiten Saskatchewans über. Die Größe der Farmen erreicht hier offenkundig noch einmal andere Dimensionen – oder es wirkt nur so, weil hier absolut nichts ist, woran der Blick verfangen könnte. Mir hat mal ein Kanadier gesagt, Saskatchewan wäre so flach, dass man seinen eigenen Hinterkopf sehen kann. Wobei Alberta und Manitoba dem nicht nachstehen. Die Landwirtschaft prägt diesen Landstrich durch und durch – bis hin zu den Autokennzeichen von Saskatchewan, die drei Getreideähren zieren. Die Farmen und deren Größe erkennt man schon von Weitem an den Getreidespeichern. Wo Ortschaften sonst schon aus der Entfernung an den Kirchtürmen auszumachen sind, sieht man hier als erstes die Inland Terminals, riesige Getreidesilos der Agrarkonzerne, wo das Getreide zum Weitertransport auf die Eisenbahn verlanden wird. Und die Hauptstraßen der wenigen Ortschaften sind gesäumt von Landmaschinenhändlern, Tankstellen, Supermärkten und Fastfoodrestaurants. Es gibt hier nichts, wo man sich länger aufhalten möchte oder wo es sich lohnen würde, mal einen Tag Pause zu machen. Die beiden Provinzen Saskatchewan und Manitoba teilen deswegen ja auch das Schicksal von Bielefeld: eigentlich gibt es sie überhaupt nicht. Zumindest nicht, wenn man deutschen Reiseführern für Kanada Glauben schenken darf. Fast alle Verlage bieten Reiseführer „Kanada – der Westen“ und „Kanada – der Osten“ an. Saskatchewan und Manitoba finden dabei überhaupt nicht statt, wobei beide Provinzen jeweils etwa 1 ½ mal so groß wie Deutschland sind. Aber ganz ehrlich: Ich wüsste auch nicht, was ich hier in einen Reiseführer aufnehmen würde.
Trotzdem bin ich nicht auf dem kürzesten Weg durch diese beiden Provinzen unterwegs, weil ich sonst ganz schnell auf den großen Transcanada Highways landen würde, was ich mir nicht antun möchte. Deswegen fahre ich weiter nördlich, wo Saskatoon, mit ca. 250.000 Einwohnern die größte Stadt Saskatchewans, auf meiner Route liegt. So viel gibt es hier auch nicht zu sehen. Die Innenstadt hat ein paar moderne Hochhäuser, schließlich haben hier die weltgrößten Konzerne für Kali- und Uranbergbau hier ihre Zentralen, aber sonst ist es eine typische nordamerikanische Großstadt.
Ein Heimatmuseum hat hier jeder kleine Ort und präsentiert seine hundertjährige Geschichte anhand von verrostetem landwirtschaftlichen Gerät und wenn er an einer Eisenbahnlinie liegt, ist auch immer eine alte Dampflok dabei. Ich besuche diese Museen nicht. Verrostete Trecker stehen hier genug in der Landschaft herum. Um nicht nur durchzufahren, entscheide ich mich kurzentschlossen vor dem Verlassen Saskatoons für einen Besuch im Saskatchewan Western Development Museum, das die Besiedlung dieser Region Anfang des 20. Jahrhundert dokumentiert. Als ich in die riesige Halle komme, bin ich erst einmal enttäuscht. Hier ist ein Straßenzug einer Stadt aus dieser Zeit nachgebaut und es sieht aus, wie eines von vielen Freilichtmuseen, nur unter Dach. Ist es bis dahin auch, aber was danach kommt, ist schon eine modern und aufwändig gestaltete, multimediale Ausstellung, die viele Facetten der Erschließung der Prärie beleuchtet und meine anfängliche Enttäuschung legt sich schnell, und ich halte mich viel länger dort auf als geplant. Die Landmaschinen dürfen hier natürlich auch nicht fehlen, allerdings sind es hier schon toll restaurierte, besondere Stücke, die eben auch zur Geschichte dieses Landes und seiner Erschließung gehören. Der Abschluss ist dann ein Besuch im Museumscafé, wo ich mir Pairie Pancake genehmige: zwei riesige Pfannkuchen mit Speckstreifen, Erdbeeren, Schlagsahne und Butter – und dabei habe ich die Karaffe mit Ahornsirup auf dem Tisch noch übersehen. Eine sehr eigenwillige Mischung, aber lecker!
Während auf dem Alaska Highway einige Radfahrer unterwegs sind, ist man hier, abseits der üblichen Route von Küste zu Küste, schon etwas Besonderes. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht nach dem Woher und Wohin gefragt werde. Meistens ernte ich Anerkennung und ein „Good for you!“ Dass man hier in der tiefsten kanadischen Provinz mit einer solchen Tour auch ganz schnell zum local hero werden kann, erlebe ich in Hudson Bay (es gibt kurz vor der Grenze zu Manitoba tatsächlich eine Kleinstadt, die so heißt). Um der Hitze zu entkommen setze ich mich zum Mittagessen in ein kleines Lokal mit dem Charme eines Vereinsheims. Es dauert nicht lange und eine ältere Tischnachbarin setzt sich zu mir, stellt die üblichen Fragen und ist so begeistert, dass sie meint, meine Geschichte müsse unbedingt in die Lokalzeitung und fragt, ob ich damit einverstanden bin, dass sie eine Reporter anruft. Was soll ich dagegen haben und eine viertel Stunde später sitzt mit ein korpulenter Schreiberling gegenüber – mit denselben Standardfragen. Fototermin mit Fahrrad vor dem Haus und schon bin ich auf der Titelseite der wöchentlichen Ausgabe des „The Junction Review“ von Hudson Bay und Umgebung.
Danach verlasse ich dann auch Saskatchewan und erreiche Manitoba. Eine große Veränderung ist nicht wahrnehmbar, außer dass die Straße erst einmal schlechter wird und mich hunderte Fliegen und Bremsen umschwirren, die sich auch vom Insektenspray nur bedingt abschrecken lassen. Ich weiß, dass meine Versuche, gelegentlich eine zu erschlagen, auch nichts bringen, aber man muss doch zeigen, dass man sich nicht ganz kampflos ergibt.
Landschaftlich bleibt es flach, es gibt wieder etwas mehr Wald und vor allem fahre ich durch weite Sümpfe. Das macht die Suche nach einer Möglichkeit, das Zelt aufzuschlagen nicht gerade einfacher. In einem kleinen Ort fülle ich meine Wasserflaschen noch einmal auf und erkundige mich nach einer Möglichkeit, mein Zelt aufzuschlagen, bekomme aber die Auskunft, das wäre keine gute Idee, weil ein Bär in der Gegend ist und gerade heute eine Bärenfalle aufgestellt wurde. Also weiterfahren, obwohl es schon Abend wird und ich viele Kilometer in den Beinen habe. Nach etwa zehn Kilometern finde ich ein Grundstück mit einer Ruine es kleinen Getreidespeichers etwas abseits der Straße und Sträucher geben auch noch Sichtschutz. Einfach ideal. Nachts gegen 01.00 Uhr muss ich noch einmal aus dem Zelt und kann kaum glauben, was ich sehe. In der mondhellen Nacht leuchtet ein kräftiges Nordlicht über dem Getreidesilo! Damit hatte ich hier, so weit im Süden und dann noch in einer Vollmondnacht im Sommer niemals gerechnet! Kamera und Stativ so schnell es im Halbdunkel und im Halbschlaft eben geht, rausholen und schnell ein paar Aufnahmen machen. Leider ist der Lichtertanz schon fast vorbei, bis ich soweit bin, aber den Beweis liefere ich hier. Was fehlt ist das Geheul eines Kojotenrudels, das für Stimmung noch die Kirsche auf der Sahne ist. Ich warte noch eine Stunde, aber das Spektakel ist vorbei und durchgefroren und von Mücken zerstochen krieche ich wieder in meinen Schlafsack.
Wind, Mücken, Fliegen und Bremsen halten mich davon ab, noch weitere Umwege um die Seen zu fahren, zumal ich landschaftlich auch nichts anderes erwarte als hier. Und die Tour um den Lake Winnipegosis ist weit, schließlich ist der See zehnmal so groß wie der Bodensee. Und wie es mit der Versorgung weiter im Norden aussieht, kann ich auch nicht erkennen, denn auf der Karte sind über mehrere hundert Kilometer keine Orte verzeichnet. Deswegen entscheide ich mich für eine Route über die Narrows des Lake Manitoba, wo es an der engsten Stelle eine Brücke über diesen auch riesigen See gibt. Das Wetter meint es in den letzten Tagen besonders gut mit mir. 40° C am Lenker, weit und breit keine Wolke und Schatten gibt es in der Prärie sowieso nicht.
Nach mehr als 5000km und einer Reihe langer Tagesetappen erreiche ich Winnipeg, die Hauptstadt Manitobas und mit 750.000 Einwohnern eine richtige Großstadt, ziemlich genau in der Mitte Kanadas zwischen Ost und West und damit auch ein Hauptverkehrsknotenpunkt, durch den alles durch muss. Hier ist wieder einmal ein Pause (über)fällig. Und das Timing ist perfekt. In der ersten Nacht im Hostel gibt es ein schweres Gewitter mit Starkregen, was sich am Nachmittag meines Ruhetages noch einmal wiederholt.
Die kurze Auszeit nutze ich für eine Besuch des Canadian Museum for Human Rights. Das moderne Bauwerk ist so markant im Stadtzentrum, dass man es nicht verfehlen kann. Dass Haus und auch die Ausstellung haben mich begeistert, wie selten ein Museum zuvor. Die Art, wie hier das Thema Menschenrechte aufbereitet wurde, ist wohl einzigartig, wobei der Schwerpunkt natürlich auf Kanada gerichtet ist, aber auch globalen Themen wird facettenreich breiter Raum gegeben. Ein absolutes Muss, wenn man in dieser Stadt ist. Dafür hätte ich mir die Führung in der Royal Mint, in der alle Münzen für Kanada und für viele andere Länder auf der Welt geprägt werden, gern sparen können.
Für morgen ist wieder strahlender Sonnenschein und Westwind angekündigt. Und damit geht’s dann weiter Richtung Ontario durch eine Engstelle Kanadas, wo es nur ganz wenige Straßen gibt, weil überall Seen im Weg sind – also geht’s jetzt auf die Hauptverkehrsadern.