Es ist ein anderes Gefühl als im Baltikum und besonders als in Russland, hier in Finnland unterwegs zu sein. Gut, die Sprache wird sich mir mit Sicherheit nicht erschließen, allerdings habe ich hier auch noch fast niemanden getroffen, der kein Englisch spricht. Außerdem ist hier wegen der kleinen Minderheit schwedisch sprechender Finnen alles konsequent zweisprachig, was bei den Ortsnamen noch verwirrend ist, bei anderen Alltagsdingen aber durchaus hilfreich sein kann, denn vieles aus dem Schwedischen kann man sich erschließen, was bei finnisch definitiv ausgeschlossen ist. Aber es sind insbesondere die Freundlichkeit und die Gelassenheit der Menschen, die es hier sehr, sehr angenehm machen. Und diese Gelassenheit überträgt sich auch auf das Verkehrsklima. Einmal abgesehen von einem so aufwändigen wie perfekten Ausbau der Straßen für Radfahrer, wird sehr viel Rücksicht genommen.
Was fällt einem spontan ein, wenn man an Finnland denkt? Wälder, Seen, Schären, Elche...
Soweit alles richtig. Es gibt da nur ein kleines Problem.
Okay, die Elche sich zeigen sich auch hier nur auf Verkehrsschildern - damit war zu rechnen. Wälder gibt es reichlich, links, rechts, eigentlich überall und immer. Das mit den Seen ist so eine Sache. Der erste Eindruck, als ich aus Russland kam, war eben Bilderbuch-Finnland. Danach wurde es aber eher spärlich mit den Seen. Na gut, ich fahre nicht durch die Seengebiete des Landes, sondern bleibe an der Küste. Und wenn denn mal ein See am Wegesrand liegt, kommt man einfach nicht ran. Entweder ist der Wald davor und dazwischen oder das Seeufer ist bebaut und alle Wege führen auf Privatgelände, zwingen also zur Umkehr. Bleiben also die Schären. Ein Blick auf die eine Landkarte mit kleinem Maßstab zeigt, wie zerklüftet inbesondere die Südküste Finnlands ist, der ich von der russischen Grenze Richtung Helsinki und Turku folge. Aber ein Blick auf eine Straßenkarte zeigt auch, dass alle Straßen die von der Hauptstraße Richtung Küste abzweigen, Sackgassen sind, die auf die Halbinseln oder Inseln enden. Wirklich keine Alternative, wenn man mit dem Rad unterwegs ist und noch einen langen Weg vor sich hat und das Ende des Urlaubs näher rücken sieht. Also bleibt es bei der Hauptstraße, bzw. parallel geführten Nebenstraßen für den langsamen Verkehr, die immer wieder mal die Enden der Fjorde streifen, aber die Ostsee und die Schären verstecken sich ebenso erfolgreich wie die Elche und die Seen. Es ist schon bezeichnend, dass auf meiner Straßenkarte, die den gesamten Süden des Landes abdeckt, jede einzelne Badestelle verzeichnet ist - und es sind wirklich nicht viele. Denn auch an der Küste sind alle interessanten Abschnitte bebaut und nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Oder es ist Wald und man kommt nicht an die Küste bzw. es sind versumpfte Schilfgürtel - jetzt ein bisschen mehr von den Stränden Deutschlands oder Polens...
Loviisa, Pernaa oder Porvoo sind die Namen von gepflegten, z. T. ein bisschen verschlafenen Kleinstädten, durch die ich bei meiner Tour entlang des Finnischen Meerbusens komme. Porvoo hat mich allerdings etwas länger festgehalten. Abgesehen davon, dass hier von verschlafen überhaupt nicht die Rede sein kann, denn die Touristenbusse stehen in langer Reihe am Rande des historischen Kerns der zweitältesten Stadt Finnlands. Und sie ist wirklich malerisch und lädt geradezu dazu ein, länger zu bleiben. Das war aber überhaupt nicht meine Absicht. Vielmehr war ich auf der Suche nach einem Schuster, der einen meiner Schuhe wieder zusammenklebte, denn die Sohle drohte sich vom Rest des Schuhs zu verabschieden. Tatsächlich war ich auch sofort erfolgreich bei meiner Suche, allerdings schnell geht hier gar nichts. Der Mann hinter dem Tresen erklärte mir, dass der Kleber einen Tag trocknen müsse, wenn er halten solle, anders lehnte er die Reparatur ab. Also Schuhe aus, Sandalen an, auf dem Campingplatz eingemietet und dann in Ruhe den Ort erkundet. Nach einer Woche kann ich allerdings sagen, dass der offenbar Kleber nicht lange genug getrockent hat. Die Reparatur sah zwar sehr gut aus, inzwischen lösen sich die Ränder der Sohle wieder an denselben Stellen wie vorher.
Mit einem Schuh, der fast wie neu aussieht, setze ich am nächsten Tag meine Fahrt Richtung Helsinki fort, wo ich eigentlich schon am Tag davor ankommen wollte. Schon in Porvoo, fast 50km von Helsinki entfernt, beginnt die Wegweisung speziell für Radfahrer in die Hauptstadt. Und besser als in Helsinki selbst kann eine Radwegeführung kaum sein. Perfekt ausgeschildert findet man nicht nur das Zentrum, sondern auch alle anderen Ziele in der Stadt. Und wie schon angedeutet - die Radwege sind ein Traum.
In Helsinki hat es mit der Unterkunft in Zentrumsnähe nicht geklappt. Die Hotelpreise sind auch saftig und so bin ich in einem Hostel in Espoo gelandet, einem der Vororte, die mit der Hauptstadt zu einem Großraum zusammengewachsen sind. Zur Metrostation sind es nur ein paar hundert Meter und nach wenigen Minuten Fahrt stehe ich auf dem Hauptbahnhof von Helsinki.
Helsinkis Sehenswürdigkeiten sind eher überschaubar. Natürlich gibt es auch hier - wie in jeder Metropole - viele Museen, die ich mir aber erspare. Und Helsinki ist auch eine sehr moderne Stadt, in der an allen Ecken und Ende neue Gewerbe- und Wohnviertel entstehen, so wie in allen Großstädten der Welt, in denen die Wirtschaft floriert. Und Helsinki ist nun einmal das absolute Wirtschaftszentrum des Landes und in der Stadt mit ihren Vororten lebt etwa jeder vierte Finne. Aber für einen kurzen Eindruck soll mir ein Tag reichen und dabei ist auch noch ein Ausflug auf die vorgelagerten Inseln mit der Seefestung Suomenlinna drin, die als Weltkulturerbe natürlich viele Besucher anzieht. Vom Marktplatz am Hafen fahren in kurzen Abständen zahlreiche Schiffe auf die Schäreninseln mit dem ausgedehnten Festungskomplex, der allerdings kein reines Museum ist, denn es leben hier auch 600 Menschen.
Nach zwei Nächten in dem Hostel verlasse ich die Hauptstadt und fahre über Turku - eine Stadt, an der mich so gar nichts reizen konnte - an die Westküste, um von hier Richtung Norden zur schwedischen Grenze zu gelangen. Anders als an der Südküste, kann ich hier zumindest bis Vaasa weitestgehend die Hauptstraße meiden und auf Nebenstraßen nahe der Küste - allerdings auch hier, ohne sie wirklich zu sehen - mit ein paar Extrakilometern den Straßenverkehr aus dem Weg gehen und komme dabei auch noch durch die Idylle der finnländischen Dörfer. Und nach ein paar hundert Kilometern durch diese Gegend steht für mich fest, der Finne streicht im Sommer sein Haus (meistens rot), er sägt, spaltet und stapelt Brennholz für den Winter oder er ist mit Wohnwagen oder Wohnmobil im Land unterwegs.
Aber auch die finniche Provinz hat ihre Reize und Überraschungen. Da mein Reiseführer für die Ostseerunde bei Turku abbricht und dann nach der Fährfahrt in Stockholm wieder ansetzt - wo wie es die meisten Reisenden auch machen - bin ich jetzt quasi im Blindflug unterwegs, was die Sehenswürdigkeiten auf der Strecke angeht. Und so ist so eine Kleinstadt wie Rauma dann auch eine angenehme Abwechslung auf der Fahrt durch die Wälder. Denn auch Rauma hat eine sehr schöne Altstadt aus Holzhäusern, die schon sehr früh zum Weltkulturerbe erhoben wurde - je früher desto besser, je später desto banaler...
Selbst auf die Gefahr hin, dass ich mir den Ruf eines notorischen Kirchgängers einhandeln sollte (sie sind nun einmal die herausragenden Gebäude vieler Orte und oft das Einzige, was diese an Besonderem zu bieten haben), gibt es hier dann doch noch einmal ein besonderes Exemplar. Als ich abends mit sehr schönem warmen Sonnenlicht in der Kleinstadt Kirstinestad ankam, war ich von dem sehr schönen alten Stadtzentrum und der Lage an der Ostsee mit den üblichen, vorgelagerten Inseln begeistert. Denn die meisten Städte reizen noch nicht einmal zum Anhalten. Besonders ins Auge fiel dabei eine Kirche, die sehr stark an norwegische Stabkirchen erinnnte. Ich wollte nach einem langen Tag mit starkem Gegenwind nur noch auf den Campingplatz, etwas essen und eine lange, heiße Dusche. Den Ort wollte ich mir morgens bei meiner Abfahrt noch einmal ansehen, wenn die Sonne die Häuser auch von der richtigen Seite anstrahlte. Daraus wurde nichts. In der Nacht hatte es geregnet und morgens war der Himmel noch bewölkt, also kein gutes Licht für schöne Fotos. Trotzdem konnte ich mir diese Kirche nicht entgehen lassen. Komplett aus Holz gebaut und offenbar bis heute ohne elektrisches Licht, strahlt sie eine ganz besondere Atmosphäre aus und gern würde ich das Kircheninnere einmal sehen, wenn es vom Kerzenschein beleuchtet ist.
Ich arbeite mich langsam Richtung Norden und damit in Richtung schwedischer Grenze vor. Langsam heißt, nach sechs Wochen, die ich inzwischen unterwegs bin und damit die Halbzeit der Reise deutlich überschritten habe, dass ich mich nach insgesamt mehr als 4300km an lange Tagesetappen von 120 - 150 Kilometern gewöhnt habe, selbst wenn ich, wie in den letzten Tagen, ständig gegen den starken Nordwind anfahren muss. Zwei bis drei Tage werde ich wohl noch gebrauchen, um bei Haparanda nach Schweden einzureisen und dann vom nördlichsten Punkt der Tour in vier Wochen nach Hause zurückzufahren. Finnland bietet, wie erwartet, nicht allzuviel Abwechselung. Es sind die langen Wege durch immer gleiche Landschaften. Die Orte wirken schläfrig bis ausgestorben, und ich weiß nicht, ob die Finnen trotz oder wegen dieser Monotonie so bekannt für ihre ausgefallenen und leicht schrägen Wettbewerbe sind (von denen ich leider keinen erlebt habe). Mal sehen, ob die Wälder in Schweden anders aussehen. Immerhin gibt es dort ausgeschilderte Radreiserouten abseits der Hauptstraßen. Hier gibt es für mich für die letzten 350km keine Alternative. Ab Turku habe ich es bis hier nach Kollola geschafft, mich fast ausschließlich auf Nebenstraße in Küstennähe zu bewegen. Das ist jetzt vorbei. Glücklicherweise wird der Verkehr aber auch immer dünner. Falls nichts Unvorhergesehens mehr passiert, melde ich mich demnächst mit den ersten Eindrücken aus Schweden.
Abschließend muss ich aber noch ein Vorurteil über Finnland ausräumen: Es gibt KEINE Mücken in Finnland, jedenfalls nicht in nennenswerter Zahl. Ein einziges Mal habe ich mich mit einem Mittel zur Mückenabwehr eingesprüht, als ich mitten im Wald übernachtet habe - aber auch das war im Vergleich zu Polen oder Lettland Kindergeburtstag. Ein Finne sagte zu mir, dass es in diesem Jahr tatsächlich außergewöhnlich wenige Mücken gibt, ohne dass man eine Erklärung hierfür hat. Vielleicht hängt es mit dem Jahrhundertsommer zusammen. Jedenfalls brauchte ich in Finnland (bis heute) mein Regenzeug nicht auszupacken.