Es ist schon eine Weile her, dass ich hier erzählt habe, was inzwischen so passiert ist und man kann fast den Eindruck bekommen, ich hätte mein Vorhaben, Gibraltar zu erreichen, aufgegeben. Habe ich nicht und Gibraltar liegt jetzt schon ein paar Tage hinter mir. Allerdings war es am Ende doch wieder einmal eine sportliche Herausforderung, an der Küste zu bleiben und in dem von mir selbst gesetzten Zeitrahmen hier an der Südspitze der Iberischen Halbinsel anzukommen. Mit anderen Worten: Ich bin wieder einmal sehr viel gefahren und die kürzer werdenden Tage waren damit ausgefüllt, voranzukommen, sodass ich abends auch meistens keine Energie mehr hatte, mich im Zelt mit Stirnlampe hinzusetzen und alles in wohlfeile Worte zu fassen und im Internet zu veröffentlichen.
Jetzt sitze ich in einem Hotel in Torremolinos in der Nähe zum Flughafen Malaga, mein Fahrrad ist in Folie verpackt und morgen trete ich den Rückflug nach Hause an.
Vor knapp drei Wochen hatte ich bei Tui Spanien verlassen und auf einer alte Brücke über den Rio Minho Portugal erreicht. Damit habe ich aber auch das Gefühl in eine andere (Radfahrer-) Welt zu kommen. Gut, die Küste Nordspaniens ist durch die Pyrenäen geprägt, die bis unmittelbar ans Meer reichen. Dadurch ist es bergig und der Straßenbau ist so aufwändig, dass fast durchgängig auf Radwege verzichtet wird. Und nun komme ich nach Portugal, die Berge sind verschwunden und auf eine hervorragenden Betonpiste direkt am Fluss, abseits von allen Straßen rolle ich entspannt bei bestem Wetter in Richtung Küste. Willkommen im Radfahrerparadies? Anders als in Spanien, wo meine Fahrradnavigations-App so gut wie keine Radwege anzeigt (mit Ausnahme von einigen Mountainbike-Trails, die ich besser meide), folge ich hier einem Band, das direkt an der Küste entlangführt. Auch nachdem ich den Rio Minho verlassen habe, bleiben die Bedingungen hervorragend. Der Radweg, oft lange Holzbohlenstege, ist hier gleichzeitig wieder ein Jakobsweg, die portugiesische Route von Porto kommend, die als eine der leichtesten und kürzesten gilt, und so kommen mir auch sehr viel Pilger mit ihren typischen Insignien entgegen. Gerade der erste Tag in Portugal führt mich durch zahlreiche kleine, sehr gepflegte Ortschaften, weit ab vom Massentourismus. Das bleibt nicht so, aber der erste Eindruck prägt sich ein. Wieder komme ich auch durch landwirtschaftlich genutzte Gegenden, die allerdings im Vergleich zu dem, was ich in den Niederlanden und in Frankreich gesehen hatte, regelrecht primitiv wirken – aber auch das soll sich noch ändern.
Wie schon erwähnt, sind die Tage inzwischen kurz. Allerdings liegt Portugal in einer anderen Zeitzone. Hier gilt die Westeuropäische Zeit, also eine Stunde zurück. Nun könnte man denken, damit hätte ich morgens eine Stunde gewonnen. Aber irgendwie ist es wie mit der Arbeit, die auch immer die Zeit braucht, die man ihr gibt. Ich bin in meinem Rhythmus und bin weiterhin meistens kurz nach neun auf dem Rad – vom Tageslicht her also eine Stunde später als sonst, was immerhin den Vorteil hat, dass es schon wärmer ist. Aber mit dem Verlassen der Berge, steigen auch die Temperaturen. Je weiter man nach Süden kommt, desto sommerlicher (für einen Norddeutschen) wird es und das Problem der geschlossenen Campingplätze hat sich damit auch weitgehend erledigt, denn hier sind noch sehr viel Touristen unterwegs. Man hat den Eindruck, jeder zweite in Deutschland zugelassene VW-Bus ist hier unten unterwegs und von denen hat wiederum jeder zweite mindestens drei Surfbretter auf dem Dach. Ist wohl der Standard in der Szene.
Die erste Großstadt, die erreiche, ist Porto. Der Name sagt es schon: Hafenstadt. Industriestadt. Meistens kann ich diesen Orten nicht so viel abgewinnen. Porto ist da allerdings anders, denn Hafen und Industrie liegen an der Küste, bzw. die Industrie auch im Hinterland. Und wenn man von der Küste kommt, bekommt davon kaum etwas mit, sondern folgt dem Douro einige Kilometer flussaufwärts, auf denen die Flussufer zu beiden Seiten steil ansteigen. Porto und auf der gegenüberliegenden Flussseite São Pedro da Afurada sind in diese Hänge gebaut und bieten damit ganz andere Panoramen als Städte in der Ebene. Viele alte, prunkvolle Gebäude, aber auch viel Verfall prägen das Stadtbild. Nach einem Besuch der Kathedrale, die fast wie eine Festung wirkt, verlasse ich die Stadt über die Ponte Luís I, die ich mir nur mit der Straßenbahn und den Fußgängern teilen muss.
Ein kleine Highlight südlich von Porto, zumindest was die Natur angeht, ist auf dieser Strecke der Ria de Aveiro. Am ehesten kann man dessen Mündung wohl mit der Kurischen oder der Frischen Nehrung an der Ostsee mit den dahinterliegenden Haffs vergleichen. Auch hier trennen lange Dünen den Fluss vom offenen Meer und dahinter ist ein Paradies für Wasservögel aller Art. Absolute Windstille, leichter Morgendunst und eine pottebene Straße, auf der so gut wie kein Auto unterwegs ist, machen diese Fahrt am frühen Morgen zum Genuss und in dem flachen Wasser bieten die Flamingos und die Fischerboote, die an venezianische Gondeln erinnern, für interessante Fotomotive. Bei São Jacinto gibt es eine kleine Fähre, die einen über die Verbindung des Flusses zum Atlantik bringt und einem damit einen riesigen Bogen um das Flussdelta erspart.
Zwischen Porto und Lissabon erinnert die Küste sehr stark an die südfranzösische Atlantikküste: Schier endlose Sandstrände mit breiten Dünengürteln, die mit Pinienwäldern bewachsen sind – sofern sie noch da sind, denn hier muss vor einigen Jahren ein verheerender Waldbrand gewütet haben und so fahre ich auf einer Strecke von mindestens 100km durch verbrannte Erde. Es ist nicht mehr verkohlt, es wachsen wieder Büsche und kleine Bäume. Aber auf riesigen Flächen ist man dabei, mit schwerem Gerät die verbrannten Baumleichen abzuholzen und noch irgendwie nutzbar zu machen. Ich vermute, sie kommen in die Papierfabriken. Das macht den Anblick aber nicht gerade schöner, denn wo die Harvester und Forwarder gewesen sind, haben sie tiefe Spuren in dem weichen Sand hinterlassen.
Für alles Positive, was ich über Fahrradinfrastruktur in Portugal gesagt habe, straft mich die Annäherung an Lissabon Lügen. Nicht genug damit, dass irgendjemand Berge vor Lissabon aufgeschichtet hat – mein Höhenmesser zeigt einmal 19% an, die ich dank eines sehr kräftigen Schiebewinds sogar noch ohne abzusteigen hochkomme. Einer dieser Berge ist laut Karte 177m hoch. Wird nicht so schlimm werden, denke ich mir, denn üblicherweise führen Straßen nicht über den Berggipfel sondern dran vorbei oder drum herum. Auf kurzer Distanz geht es vom Meeresniveau dann steil hinauf und der Höhenmesser klettert auf exakt 177m, denn es ist kein Gipfel, sondern die Straße verläuft auf dem Berggrat mit einer tollen Aussicht über Meer und Hinterland – wenn denn das Wetter mitgespielt hätte. Ich verlasse die Küste in Richtung Lissabon kurz vor dem Cabo de Roca, dem westlichsten Punkt des europäischen Festlandes. In meiner Zeitplanung – wenn ich so etwas jemals gehabt hätte – hätte mich dieser Umweg einen Tag gekostet, der mir am Ende fehlen könnte (und das alles nur wegen einer gebrochenen Felge!). Die Radwege sind verschwunden und so fahren ich auf engen Hauptstraßen in die Hauptstadt ein. Glücklicherweise ist es ein Sonntag und damit ist der Verkehr nicht so dicht, denn einen Seitenstreifen gibt es nicht und mit dem Seitenabstand zu Radfahrern hat man es hier auch nicht so. Es ist kein Spaß, sich als Ortsunkundiger auf vierspurigen Einfallstraßen mit großen Verkehrsknoten einer Millionenstadt anzunähern. Eine echte Herausforderung ist dabei immer das Überqueren von großen Auf- und Abfahrten, in denen niemand die Fuß vom Gaspedal nimmt. Was ich bis zum Ende auch nicht verstanden habe, ist die Frage, was man von mir in den Kreisverkehren erwartet, die in Frankreich, Spanien und Portugal immer mindestens zweispurig sind und von denen ich hunderte befahren und mit Glück sogar überlebt habe, denn mit meinem Rad bleibe ich besser am äußeren Rand des Kreisverkehrs und die Abbieger kommen mit unverminderter Geschwindigkeit aus dem Innenring des Kreisel und sehr oft hatte ich das Gefühl, dass Radfahrer als normale Opfer des Straßenverkehrs in Kauf genommen werden. Erst im Stadtzentrum ändert sich die Lage. Hier gibt es ein überwiegend gutes Radwegenetz, auf dem man sich sicher bewegen kann – wenn man denn die zahlreichen E-Scooter-Fahrer immer und überall im Blick hat, für die es offenbar auch keine Regeln gibt. In Lissabon bin ich mal wieder in ein Hotel gegangen und habe mir einen Tag (viel zu wenig) Zeit genommen, um einige Eindrücke einzusammeln.
Lissabon verlassen ist einfach. Man fährt zum Tejo, nimmt eine Fähre und setzt auf die andere Seite über. Schon hat man die Hauptstadt verlassen und ist in den ausgedehnten, ebenfalls großstädtischen Vororten. Um wirklich raus zu sein, muss man erstmal die 40 km bis Setúbal fahren und eine weitere Fähre nach Tróia nehmen. Jetzt ist man wieder auf einer riesigen Düne unterwegs und fast für sich allein. So langsam komme ich in die Algarve. Die Küste wechselt von endlosen Sandstränden zu Felsklippen mit Sandstränden und auch die Zahl der Surfer nimmt deutlich zu. Einige Campingplätze sind auch jetzt im späten Oktober noch sehr gut gefüllt. Nachdem ich schon einige markante Landmarken ausgelassen habe, lasse ich es mir nicht nehmen, nach Sagres und von dort zum Cabo de São Vincente, dem südwestlichsten Punkt auf dem Kontinent zu fahren. Klar, auch hier steht ein Leuchtturm und die Küste ist absolut faszinierend. Von hier gibt es nur einen Weg: Zurück! Und dieses Zurück bedeutet erst einmal ein hartes Stück Arbeit gegen den Wind, der hier von nichts gebremst wird. Erst nach 15km drehe ich Richtung Osten ab und jetzt hilft der Wind ganz gut mit. An diesem Küstenabschnitt liegen für mich auch die schönsten kleinen Orte der Algarve. Je näher ich dem Faro mit seinem Flughafen komme, desto flacher wird die Landschaft und abschreckender die Ortschaften mit ihren Hotels für den Massentourismus und den vielen Golfplätzen mit den Luxusressorts und -villen in der Nähe.
Ich folge hier einer ganz gut ausgeschilderten Radstrecke, deren Qualität sehr, sehr unterschiedlich ist, mich aber noch ein bisschen aus den Ortschaften, die sich hier fast durchgehend aneinander reihen, bringt. Dafür komme ich durch endlose Plantagen und Gewächshäusern aus Folientunneln – irgendwoher müssen die Himbeeren bei uns im Supermarkt im Winter ja kommen.
Wie im Norden bildet auch hier im Süden mit dem Guadiana ein Fluss die Grenze zu Spanien. Diesmal ohne Brücke, dafür mit einer kleinen Fähre, die wieder einen langen Umweg erspart und die ich wieder einmal auf den letzten Drücker erwische und nach wenigen Minuten auf dem Wasser bin in in Ayamonte und damit zurück in Spanien.